Es gibt einen Muskel, genau genommen einen Verbund aus drei Muskeln, in der Mitte unseres Körpers, der (Lebens-)Erfahrungen speichern und durch unsere Emotionen in seiner Spannung beeinflusst wird. Die Rede ist von der tiefen Hüftmuskulatur. Ich habe die anatomische Sicht auf dieses Muskelgruppe in dem Beitrag 5 Fakten über den Psoas beschrieben. In diesem Beitrag gehe ich der Frage nach, warum der Psoas in der ganzheitlichen Körperarbeit auch als "Muskel der Seele" bezeichnet wird.
Heutzutage ist die Thematik rund um den Psoas aktueller denn je. Durch das verbreitete Homeoffice, das viele Sitzen und die daraus resultierenden Rückenschmerzen, aber auch durch den Stress, die ständige Erreichbarkeit und anhaltende Selbstoptimierung, sowie die möglichen Angstgefühle, die sich aus Sorgen, körperlichem Unwohlsein und unguten Gedankenszenarien zusammenbrauen, bekommt der Psoas seine aktuelle Relevanz.
Wann ist der Psoas im Einsatz?
Der Psoas ist immer in Benutzung und ein wichtiger Akteur in der Funktionsweise unseres Körpers. Er verbindet den Rumpf mit den Beinen, also den Ober- mit dem Unterkörper und ermöglicht es uns, eine aufrechte Haltung einzunehmen. Er ist an fast allen körperlichen Aktivitäten beteiligt. Egal ob wir laufen, Fahrrad fahren, tanzen, Yoga praktizieren oder einfach nur auf der Couch liegen, unser Psoas spielt dabei eine Rolle. Da er so tief im Bauchraum liegt, können wir ihn jedoch von außen nicht sehen und beurteilen, wie stark oder schwach, gedehnt oder verspannt er ist.
Der Zusammenhang zwischen Stress und Körperspannung
Stress (bzw. jede Art von Aktivität) führt ganz natürlich zu einer Erhöhung der Körperspannung. Das liegt in der Natur der Sache - wenn wir eine Aktion ausführen wollen, brauchen wir dafür Muskeln, die über eine gewisse Grundspannung verfügen müssen, um die Handlung ausführen zu können.
Leider ist es dem Körper dabei egal, ob einzelne Bereiche des Körpers bereits vor dem aktuellen "Stressreiz" angespannt waren, oder nicht. Ich glaube jeder von uns kennt den berühmten verspannten Nacken, der gerade dann zu Schmerzen beginnt, wenn das Stresslevel steigt. Auch Spannungskopfschmerz gehört in diesen Regelkreis. Aber auch andere Körperbereiche, wie Becken, Bauch und Hüften sind häufig schon von Grund auf angespannt und reagieren auf Stress mit noch mehr Anspannung.
Der Psoas ist der Hauptmuskel, der an der "Fight-or-Flight" -Reaktion, also kämpfen oder flüchten, des Körpers beteiligt ist. Wenn wir uns erschrecken, aufregen oder vor etwas Angst haben, kontrahiert unser Psoas. Er zieht sich zusammen, wird in Spannung und damit Aktionsbereitschaft versetzt. Dabei spielt es für unser Nervensystem keine Rolle, ob wir den Stress mental, emotional oder tatsächlich Körperlich erleben. Der Psoas reagiert mit Anspannung um, es uns zu ermöglichen, bei Stress zu flüchten oder zu kämpfen. Er kann uns aber auch durch sein reflexartiges Zusammenziehen in eine Schutzhaltung bringen (Embryo-Stellung). So werden bei Gefahr unsere lebenswichtigen Bauch- und Brustorgane und unsere verletzliche Körperinnenseite geschützt.
Wenn der Körper nach einer solchen Situation nicht mit Kampf oder Flucht, also irgendeiner Form von Bewegung reagiert, weil es die Situation vielleicht gerade nicht zulässt, werden die ausgeschütteten Stresshormone nicht verbraucht. Sie bleiben also weiterhin im Körper, anstatt durch eine verstärkte Muskelaktivität und eine schnellere Atmung abgebaut zu werden. Auch der Psoas ist nach wie vor in seiner erhöhten Spannung. Ein dauerhaft angespannter Psoas signalisiert wiederum dem Körper, dass wir in Gefahr sind. Der Körper schüttet daraufhin weitere Stresshormone aus, die Körperspannung steigt weiter. Ein Kreislauf ist in Gang gesetzt.
Die zentrale Rolle des Psoas im Körper
Der Psoas ist einer der tiefsten Muskeln in unserem Körper. Er beginnt am mittleren Teil der Wirbelsäule, läuft von dort nach vorne in Bauch und Becken und setzt schließlich an der Innenseite am oberen Ende des Oberschenkelknochens an.
Ich bezeichne den Psoas gerne als das "Filet Mignon" des menschlichen Körpers. Im Idealfall ist er besonders saftig, geschmeidig und dynamisch. Er ist Teil einer Muskelgruppe im unteren Rücken, im hinteren Beckenbereich und in der Hüfte. Dieser Muskelkomplex verbindet nicht nur den Oberkörper und den Unterkörper, sondern auch die Innenseite nach außen und die Rückseite nach vorne. Ohne den Psoas könnten wir nicht aufrecht stehen oder unsere Beine zum Gehen heben.
Eine weitere Verbindung des Psoas zu anderen Strukturen im Körper ist seine Verbindung über das Fasziengewebe mit dem Zwerchfell. Er hat also auch einen großen Einfluß auf die Qualität der Atmung. Ob unsere Atemzüge schnell und flach oder tief und gleichmäßig sind, hängt stark mit unserem psychischen Wohlbefinden zusammen.
Wie atmest du, wenn du von einem Termin zum nächsten rennst, dich ärgerst oder ängstlich fühlst? Welche Empfindungen nimmst du in solchen Situationen in deinem Körper wahr?
Vielleicht bemerkst du einen Kloß im Hals, Druck auf der Brust, einen Schauer im Rücken oder ein Anspannen des Kiefers. Nimmst du in solchen Situationen auch die Spannung in deinen Hüften und Leisten wahr? Dieses feste, angespannte Gefühl in der Hüfte ist dein Psoas - aktiviert und bereit jederzeit, in Aktion zu treten.
Körperliches Empfinden und der Einfluß auf unsere Psyche
Dass unser körperliches Empfinden Einfluss auf unser emotionales Empfinden hat, ist nichts neues. Wenn wir eine Bedrohung wahrnehmen - sei es eine gefühlte oder reale - hat unser Körper drei Möglichkeiten: Kampf, Flucht oder Erstarren.
Bei der Kampfreaktion ermöglicht der Psoas dynamische Verteidigungsbewegungen wie Tritte oder Schläge; bei der Fluchtreaktion wird er aktiviert, um uns das Laufen und Wegrennen zu ermöglichen. Wenn wir einen Schock erleben und starr werden oder "einfrieren", kann er sich sofort zusammenziehen, damit der Körper die schützende Embryonalstellung einnehmen kann.
Gewohnheiten in der Körperhaltung, Rückenschmerzen und Angst
Evolutionär gesehen hat der Psoas uns geholfen, vor Raubtieren zu fliehen und ist nach wie vor eng mit unserer Angstreaktion verbunden. Das ist gut so, denn auch im 21. Jahrhundert müssen wir immer noch vor Gefahren fliehen. Die Bedrohung besteht allerdings heute eher aus einem herannahenden Bus, als in einem Säbelzahntiger. Druck und Anforderungen im Leben, wie ein etwas zu voller Terminkalender, Beziehungsprobleme oder erlebte Traumata können ebenfalls dazu führen, dass der Psoas angespannt ist und dann in diesem Spannungszustand bleibt. Leider hält diese Kontraktion oft auch dann noch an, wenn die Gefahr bereits vorüber ist.
Wir können den Psoas im Alltag ebenfalls durch langes und wenig abwechslungsreiches Sitzen am Schreibtisch oder im Auto, durch zu geringe oder einseitige Bewegung und sogar durch das Tragen zu enger Hosen oder hoher Absätze in einen Zustand dauerhafter Anspannung versetzten. Diese dauerhafte Anspannung führt dann mit der Zeit dazu, dass die Muskulatur verkürzt und schmerzt.
Da sich die Spannung oft über Jahre aufbaut, wird sie häufig nicht mehr im Psoas selbst wahrgenommen. Die Beschwerden können sich in Rücken- oder Leistenschmerzen, dem Gefühl von Dünnhäutigkeit oder einer allgemein gesteigerten Ängstlichkeit äußern, für die es rational vielleicht gar keinen Grund gibt.
Furcht, Sorgen und Ängst beschränken sich also nicht nur auf unsere Gedanken. Eine anhaltende Überlastung und emotionale Traumata können sich mit der Zeit in körperlichen Symptomen bemerkbar machen. Schmerzen, die ohne ersichtlichen Grund im unteren Rückenbereich auftreten, Verdauungsprobleme oder ein ständig aufgeblähter Bauch, der nicht mit der Nahrungsaufnahme zusammenhängt, können Hinweise des Körpers sein, dass es Zeit für eine lange überfällige Pause ist.
Der entspannte Psoas
Wenn sich der Psoas entspannt, können auch zurückgehaltenen Emotionen zu schmelzen beginnen. Mit diesem Ansatz beschäftigt sich vor allem die Traumaforschung. Hier seien allen voran Peter Levine und Bessel van der Kolk erwähnt.
Ermöglichen wir dem Psoas seinen natürlichen Wechsel zwischen An- und Entspannung, wird unsere Wirbelsäule stabiler und der Rumpf und die Organe im Bauchraum werden besser gestützt und haben den Platz, den sie brauchen, um ihre Funktionen ungestört ausführen zu können.
Unsere Atmung normalisiert sich und unser Körper hat die Möglichkeit, angemessen auf die Reize und Anforderungen unseres Alltags zu reagieren.
Der Psoas in der heutigen Zeit
Unser heutiges Leben, in dem viele von uns ständig hetzen, zu viel sitzen, miteinander konkurrieren und ständig etwas erreichen müssen, kann den Psoas in einen ständigen Spannungszustand versetzen und ihn dort halten. Kommt dann noch ein Gefahrenreiz von außen dazu, ist das häufig einfach zu viel Spannung und ein Nährboden für körperliche und emotionale Beschwerden.
Unsere natürlichen Bewältigungsmechanismen sind nicht darauf ausgelegt, einer konstanten Stressbelastung standzuhalten.
Wenn dieser ‚Fight or Flight‘ Modus ohne Beruhigungsphasen immer wieder anspringt, oder wir nicht die Möglichkeit nutzen, den Erregungszustand tatsächlich auszuleben und die bereitgestellte Energie zu nutzen, bleibt der Körper in einem anhaltenden Zustand von Anspannung. Diese Anspannung kann emotional als Angst, Erschöpfung, Überreizung, Panik und ständige Unruhe erlebt werden.
Der Psoas reagiert auf seelische und körperliche Veränderungen
oft sehr sensibel.
Der Psoas ist ein durchaus emotionaler Muskel, der das hält, was tief im Inneren erlebt wird. Hier wird der Psoas also von einem mechanischen Hebel, der uns das Gehen und jede andere Bewegung ermöglicht, zu einem wichtigen Bindeglied zwischen Körper und Gefühl.
Faszien verbinden den Psoas mit dem Zwerchfell.
Das Zwerchfell ist eine dünne Schicht Muskelgewebe unterhalb der Lunge, die bestimmt, wie wir atmen. Wenn wir häufig gestresst sind, wirkt sich das auf unser Atemmuster aus. Die Atmung wird schneller und flacher und das wiederum beeinflusst den Psoas. Es gibt nur zwei Zustände, in denen sich ein Muskel befinden kann: der eine Zustand ist Anspannung und der andere Zustand ist Entspannung. Je nachdem, wie wir uns fühlen oder was wir gerade tun, wird der Psoas entweder angespannt oder entspannt.
Liz Koch, die das Buch "The Psoas Book" verfasst und damit viel Recherche zum Psoas veröffentlicht hat, spricht diesem Muskel ebenfalls viele Fähigkeiten und Eigenschaften zu. Einige glauben vielleicht, dass dies die wahre Funktion oder Fähigkeit der Muskeln übertreibt. Die zentrale Rolle die dieser Muskel in unserem Körper spielt, kann ihm, wie ich finde nur schwer abgesprochen werden. Er ist buchstäblich der tiefste Muskel des menschlichen Körpers und der Inbegriff unseres, nicht nur muskulären, Kerns.
Je gestresster wir leben, desto angespannter und verkürzter
entwickelt sich der Psoas.
Eine ständige Kontraktion eines Muskels führ mit der Zeit unweigerlich zu seiner Verkürzung.
Tritt die Verkürzung ein, ist diese häufig der Nährboden von schmerzhaften Zuständen, mit denen viele Menschen vertraut sind: Rückenschmerzen, Knieschmerzen, Ischias Schmerzen, sogar Verdauungsprobleme oder eine ständige innere Hab-Acht-Stellung.
Ein gelöster und vitaler Psoas dagegen fördert das Gefühl von Freude, innerer Gelassenheit und Wohlbefinden.
Es ist die Verbindung zum Nervensystem, die den Psoas zu einem emotionalen Muskel macht. Er verbindet Gefühle wie Angst, Wut und Traurigkeit aber auch angenehme Gefühle wie Freude, Liebe und Glück mit körperlichen Empfindungen.
Welche körperlichen Schmerzen können mit dem Psoas in Verbindung stehen?
Körperliche Beschwerden, die mit einem chronisch angespannten Psoas in Verbidnung stehen, sind im Allgemeinen nicht im Hüftbereich lokalisiert. Häufig kommt es zu Schmerzen, die indirekt durch einen kontrahierten Psoas entstehen. Dies bedeutet, dass nicht unbedingt der Becken- und Hüftbereich schmerzt, sondern auch angrenzende Bereiche wie die Schultern, der obere oder der untere Rücken.
Wenn wir beginnen, den Psoas zu entspannen, fühlen wir uns häufig nicht nur beweglicher und geschmeidiger in Hüfte und Becken, können Schmerzen im gesamten Rücken lösen, sondern fühlen uns auch emotional unbeschwerter, belastbarer, weniger ängstlich und gestresst.
Der Psoas nach Traumaerfahrung
Wenn wir eine traumatische Erfahrung machen und das Nervensystem (einschließlich des Gehirns) die bedrohliche Information erhält, dass der Körper angegriffen wird, gerät der gesamte Körper in Alarmbereitschaft. Der Psoas spannt auf beiden Seiten der Lendenwirbelsäule an, damit wir uns verteidigen und schützen können.
Während angespannte Muskeln, verspannte Schultern oder schmerzende Füße sich mit einem heißen Bad entspannen lassen oder manchmal einfach nur eine Ruhepause brauchen um wieder weich zu werden, verhält es sich beim Psoas etwas komplexer. Jedes neu auslösende Ereignis, auch Ereignisse, die "nur" stressig und nicht vollständig traumatisierend sind, erzeugt zusätzliche Spannung.
Wie lässt sich der Psoas entspannen?
Manche Menschen dehnen und kräftigen ihren Psoas stundenlang, ohne dass die Symptome nachlassen. Das liegt daran, dass sie die ohnehin schon stimulieren Nervenbündel noch stärker stimulieren. Und den Nerven und Muskeln geht es nicht anders als uns, ihren Besitzern - Manchmal ist einfach Pause machen und wortwörtlich die Füße hochlegen angesagt.
In dem Artikel 5 Fakten über den Psoas findest du eine einfach Übung, um dem Psoas eine kurze Auszeit zu geben.
Neurogenes Zittern zur Verbesserung von Stressdruck, Angst und belastenden Emotionen
Eine weitere Methode, um die Anspannung des Psoas zu lösen, ist das neurogene Zittern. Bei der TRE-Methode (Tension and Trauma Releasing Exercises) werden gezielte Übungen genutzt, um den Psoas aus seiner Anspannung zu lösen. Dieses Lösen wird nicht aktiv herbeigeführt, sondern der Körper wird sanft in einen natürlichen Zittermechanismus geführt, der die Muskulatur lockert und den Körper in ein Fühlen zurückführt, das möglicherweise nach erlebten Trauma nicht mehr möglich war. Das Erlauben und Zulassen der Empfindungen und Gefühle, kann helfen, sich aus festgefahrenen Mustern zu lösen.
WICHTIG:
Bei dieser Form der Therapie können Emotionen an die Oberfläche kommen und traumatische Erfahrungen emotional noch einmal erlebt werden. Eine professionelle Anleitung und Begleitung bei der Durchführung der TRE-Methode ist daher unbedingt empfohlen!
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